Beispiele des kollektiven Rechtsschutzes

Der kollektive Rechtsschutz ist ein Verfahrensmechanismus. Er ermöglicht die Ausübung bestehender Rechte; er schafft keine neuen Rechte.

Während einige Länder ihn auf das Verbraucherrecht beschränkt haben, wird der Entwurf des Bundesrates es ermöglichen, diesen Hebel in sämtlichen Bereichen des Rechts anzusetzen. Er wird daher auch für Unternehmen, insbesondere für KMU, von Vorteil sein. Letztere werden oft genauso abgeschreckt wie die Konsument:innen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Rechte geht, und sie verzichten lieber.

Anwendungsbereiche

Die Bereiche, in denen Massenschäden auftreten können, sind vielfältig. Hier einige fiktive Beispiele:

In der Industrie oder im Bausektor

z. B. wenn mehrere Personen giftigen Stoffen wie Asbest, radioaktiver Strahlung oder anderen gesundheitsschädlichen Substanzen ausgesetzt wurden; oder gegen ein Unternehmen, das ein fehlerhaftes, gefährliches oder für den Verzehr ungeeignetes Produkt in Verkehr gebracht hätte.

Im Kartellbereich

z. B. wenn eine Kartellabsprache einer grossen Zahl von Wettbewerbern Schaden zugefügt hat.

Im Bereich des unlauteren Wettbewerbs

z.B. wenn durch unlauteres Verhalten gegenüber einer grossen Zahl von Käufern unrechtmässige Gewinne erzielt werden können.

Konkrete Beispiele (Schweiz und Europa)

Unlautere Geschäftspraktiken. In der Schweiz (2015) haben vor einigen Jahren Direktverkäufer Druckerpatronen und Toner zu einem unschlagbaren Preis an KMU verkauft ​und dabei behauptet, es handle sich um neue Waren, die in Schulen nicht verwendet wurden. In Wirklichkeit handelte es sich um umgepacktes Material, das zum Neuwert verkauft wurde. Die Unmöglichkeit, kollektiv zu handeln, entmutigt jegliches Vorgehen gegen dieses unlautere Verhalten.

Sparen. In der Schweiz (2009) verloren viele Kleinanleger ihre Ersparnisse durch den Konkurs der Lehman Brothers. Sie hatten den Rat von Credit Suisse befolgt und ihre Ersparnisse in die strukturierten Produkte des amerikanischen Instituts investiert. In Ermangelung eines kollektiven Rechtsschutzes und angesichts der Weigerung der Credit Suisse, ihre Verantwortung zu übernehmen, hatte die FRC keine andere Wahl, als anhaltenden Mediendruck auf die Credit Suisse auszuüben. So gelang es ihr, eine unverhoffte Entschädigung von 50 Millionen Franken für 400 geschädigte Kleinsparer zu erhalten. Dieser Sieg, aber auch die Schwierigkeiten, mit denen die FRC konfrontiert war, um ihn zu erreichen, veranlassten die FINMA, 2012 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation der Bankkunden zu erlassen und entfachten die Debatte über die Notwendigkeit eines kollektiven Rechtsschutzes in der Schweiz neu.

Kartellabsprache. In den Niederlanden (2008) beschloss​​ ein Brauerkartell, den Bierpreis in einer grossen Anzahl von Bars und Cafés zu erhöhen. In der Hoffnung, entschädigt zu werden, versuchten die Betriebe mit Hilfe ihres Dachverbands die Brauer zu verklagen, konnten jedoch nach niederländischem Recht keine Massnahmen für eine Verbandsklage einleiten.

Schwere Lebensmittelvergiftungen. In Frankreich (2022) waren Buitoni-Pizzas von Nestlé für die Ansteckung mehrerer Menschen mit E. coli-Bakterien verantwortlich und haben sogar zum Tod von zwei Kindern geführt. Im selben Jahr landeten mehrere Personen, vor allem Kinder, im Spital wegen schwerwiegenden bakteriellen Infektionen (Listerien, Salmonelle) im Zusammenhang mit dem Verzehr von kontaminierten und dann in Verkehr gebrachten Lebensmitteln (Kinder, Lactalis).

Fehlerhafte Prothesen. ​​In Grossbritannien, Belgien und Frankreich (2003 bis 2010) wurden​​ bei fast 12’000 Menschen die Hüften durch ein fehlerhaftes Hüftprothesen-Modell ersetzt. Zum Zeitpunkt dieses Skandals stand keinem der betroffenen Länder der kollektive Rechtsschutz zur Verfügung und kein Patient wurde entschädigt. Seitdem haben diese Staaten die Situation korrigiert und alle haben den kollektiven Rechtsschutz in ihre Verfahren eingeführt.

Das Paradebeispiel VW

Forum am 16. September 2021, RTS

Das VW-Abgasskandal (2015) ist eines der aussagekräftigsten Beispiele für den Mangel an Ressourcen der Schweizer Konsumenten angesichts von Massenbetrug.

Fünf Jahre nach der Enthüllung der VW-Machenschaften haben die 175’000 Schweizer Kund:innen immer noch keine Entschädigung erhalten und bleiben ohnmächtig; darunter auch KMU, deren Fahrzeugflotte von dem Skandal betroffen war. Die Bastelarbeiten zur Einleitung eines Gruppenverfahrens in der Schweiz sind wegen Belangen des Verfahrensrechts ergebnislos geblieben.

Weitere Informationen finden Sie auf unserer Seite zum Skandal.

Im Ausland

Anderswo in Europa wurde VW dazu verurteilt, die betrogenen Kund:innen zu entschädigen. Beispielsweise erhielten Kund:innen in Deutschland (2020) je nach Fahrzeug zwischen 1’350 und 6’257 Euro. In Spanien und Italien (2021) wurde VW erstinstanzlich zur Zahlung von rund 3’000 Euro pro Person verurteilt, während geschädigte Konsument:innen jenseits des Atlantiks bereits im Jahr 2016 entschädigt wurden.